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User participation: Schreiben nur Rentner und Nörgler Leserbriefe?

Langsam holen sie ja gegenüber uns Blogs auf, die grossen Websites, und erlauben wenigstens mal Kommentare.

Im Juli schaltete die nicht ganz grösste, aber sicher wichtigste News-Website NZZ Online ihr Redesign auf, mit dem Feature, dass man jeden Artikel kommentieren kann. Nur: Bisher wird noch sehr wenig kommentiert – unter den meisten NZZ-Artikeln gähnt uns eine blanke 0 an. (Nicht dass das bei vielen Blogs grundlegend anders wäre, aber die meisten Blogs haben auch nicht 5.7 Millionen Visits pro Monat.) Zusammen mit der Netzwoche-Redaktion haben wir überlegt, woran das liegen könnte. Wollen die Leute nicht kommentieren oder können sie nicht? Gibt es vielleicht sogar Usability-Hürden?

Wir haben daher einen Test von grossen Schweizer News-Websites gemacht. Neben NZZ Online haben wir Blick Online und 20min.ch getestet – auch wenn die anderen beiden gar keine klassische Kommentarfunktion haben. Die Antwort in Kürze: Es gibt auch einige Usability-Hürden, aber vor allem wollen viele Leute nicht kommentieren. Ich war nach den Interviews einigermassen schockiert, muss ich ehrlich zugeben – wenn man sich vor allem in Blogs bewegt, scheint einem etwas der Sinn dafür abhanden zu kommen, wie wenig von den anderen Leute da draussen zu ihrer Meinung stehen wollen.  Das haben wir auch fast genauso geschrieben.

«Leserbriefe schreiben doch nur Rentner und Nörgler»

Viele grosse News-Sites bieten Lesern die Möglichkeit, eigene Kommentare anzubringen – aber nur die wenigsten bekommen sie. Wie kommt das? Die Zeix AG testete vier grosse Schweizer Online-Angebote und traf auf eine mangelnde Kommentarkultur und auf einige Usability-Probleme.

«User-Generated Content» und «User Participation» sind im Trend. Die User sollen nicht mehr nur konsumieren, sondern sich aktiv beteiligen. Damit verbindet sich die Hoffnung auf höhere Leserzahlen, engere Bindung und vielleicht sogar günstigere, weil durch User erstellte Inhalte.

Zunächst gilt es jedoch, die Begriffe zu unterscheiden. Beim «User-Generated Content» wird der Internet- User aktiv, er erstellt Inhalte und lädt sie hoch. Paradebeispiele sind Wikipedia oder Youtube, wobei beide immer wieder dafür kritisiert werden, dass es von diesen aktiven Schreibern oder Filmern viel zu wenige gäbe. Dabei geht manchmal vergessen, dass es auch den niedrigeren Level der «User Participation» gibt, bei der die Site- Besucherinnen zum Beispiel einfach Kommentare oder Bewertungen abgeben können. So bezeichnet sich Ebay heute stolz als «erste Web- 2.0-Site», weil die Auktionen dort immer schon von den Partnern bewertet wurden. Die Grenze zwischen den beiden Betätigungsformen ist nicht immer ganz eindeutig.

90 Prozent der Web-User lesen nur

Die aktive Beteiligung der User ist an sich nicht neu. Onlineforen wie das Usenet, in denen User sich austauschen können, gibt es schon seit den Frühzeiten des Internets. So sah WWW-Erfinder Tim Berners-Lee in seinem Browser-Konzept eigentlich vor, dass Web-User alle Seiten auch ändern können. Viele Foren sind allerdings verwaist, und für die anderen ist eine ungleiche Verteilung der Beiträge typisch. Es gilt eine 90-9-1-Regel: 90 Prozent der User lesen nur, 9 Prozent der User schreiben von Zeit und Zeit etwas, und 1 Prozent der User schreiben fast alle Inhalte. Dabei stammen die interessanteren Kommentare meist von den 9 Prozent, von denen man sich wünschen würde, sie würden öfter schreiben.

Ein neueres Feld, auf dem User sich beteiligen können, sind die Weblogs. Deren Erfolg stammt aber nicht zuletzt daher, dass in der Regel nur einer oder wenige schreiben. Auf diese Weise hängt die Qualität generell von dieser Person oder Gruppe ab. Die oben beschriebene Regel spielt dafür wieder bei den Kommentaren.

Nicht zuletzt aufgrund der Erfolge der Blogs haben in letzter Zeit auch viele «klassische» News-Sites Kommentarfunktionen zu ihren Artikeln hinzugefügt. Man will mitspielen im modernen Web 2.0 und erhofft sich durch die geringere Hürde mehr Feedback als bei den Leserbriefen. So bietet etwa NZZ Online seit dem Relaunch im Juli die Möglichkeit, Kommentare abzugeben. Es zeigt sich jedoch, dass die Leser nur sehr zurückhaltend kommentieren.Woran liegt das? Um dies herauszufinden, führten wir einen Usability-Test durch. Sechs regelmässige Online-News-Leserinnen und -Leser wurden zu ihren Kommentiergewohnheiten interviewt, beim Surfen beobachtet und nötigenfalls explizit gebeten, ihre Meinung abzugeben. Wir wollten wissen: Wollen die Leute nicht mehr kommentieren oder stellen die Websites ihnen unerwartete Hürden in den Weg?

Bisher nur Kochrezepte kommentiert

Die Ergebnisse waren ernüchternd. Die News-Leser (je drei Frauen und drei Männer im Alter von 21 bis 66 Jahren) liessen sich von vornherein in drei eher politisch engagierte und drei weniger engagierte einteilen. Die drei engagierten haben alle schon klassische Leserbriefe geschrieben ? ob Zufall oder nicht, sie sind identisch mit den drei älteren Teilnehmenden der Testserie. Die Testpersonen konnten sich aussuchen, welches Ereignis sie in den letzten Tagen besonders bewegt hatte. Für mehrere waren das die Krawalle von Bern vom 6. Oktober. Zwar hatten alle eine Meinung, aber die jüngeren drei Teilnehmer dachten nicht im Traum daran, unter ihrem echten Namen einen öffentlich sichtbaren Kommentar abzugeben.

Das Thema sei für einen selbst doch nicht so wichtig, Leserbriefschreiber seien «eh nur Rentner und Nörgler», wurde argumentiert. Auch wolle man keinen Austausch mit Unbekannten, schon gar nicht zu politischen Themen. Eine weibliche Testperson hatte daher bisher öffentliche Kommentare nur in einem Kochrezept-Forum abgegeben. Eine 21-Jährige argumentierte, die typischen Kommentatoren seien ihr zu alt: «Die sind doch alle ab 35 aufwärts», sie diskutiere lieber mit Gleichaltrigen. Eine Testperson äusserte auch Bedenken, in der Schriftform mithalten zu können. Sie äussere sich generell lieber mündlich zu schwierigen Themen.

Aber auch die politisch engagierteren Testpersonen fühlten sich durch die aktuell vorhandenen Themen nicht zur Einmischung gereizt. Sie könnten sich allerdings vorstellen, zu anderen Themen online Kommentare abzugeben und hätten das auch in der Vergangenheit schon getan.

Trotz Usability-Problemen (siehe Seite 24) liegt die grösste Hürde derzeit noch mehr im Wollen als im Können. Eine Kommentarkultur muss erst geschaffen werden. Hier sind auch die Site-Betreiber gefordert, denn allein durch das Aufschalten einer Kommentarfunktion entsteht diese nicht. Dazu passt auch die Aussage eines Online-Chefredaktors eines grossen Schweizer Portals: «User Participation ist gut und schön, aber was wichtig ist, bestimmen immer noch wir.»

Fachartikel Netzwoche

Fehlende Kommentare sind auch ein Usability-Problem.

Die mangelnde Kommentarkultur auf Schweizer Sites hat auch mit Usability-Problemen zu tun, doch geht eine Beschränkung auf die Technik zu weit. Auch auf kultureller Ebene gibt es Gründe. Ablauf und Ergebnisse der Usability-Tests.

Von Christian Walter

 

Zeix hat getestet: Die Websites NZZ Online, Blick, 20 Minuten und Tages -Anzeiger waren für den Test vorgesehen, zusätzlich steuerten die Testpersonen von sich aus die Angebote Espace.ch, SDA, Swissinfo und Dasmagazin.ch an. Die Ergebnisse der Testserie insgesamt zeigen, dass die wenigen Kommentare auf Schweizer Nachrichten- Angeboten wohl mindestens ebenso stark ein kulturelles Phänomen sind, wie auch Usability-Probleme eine Rolle spielen.

Das beginnt mit den Begrifflichkeiten. In Blogs wird klar unterschieden zwischen «Beiträgen» (engl. Posts; leider schleicht sich in letzter Zeit die Unsitte ein, diese auch «Blogs» zu nennen) und «Kommentaren». In der Web-1.5-Welt der Schweizer News- Angebote gehen die Begriffe dagegen munter durcheinander. NZZ Online schreibt beides: Unter den Artikeln steht: «Leser-Kommentare: 21 Beiträge». Swissinfo verlinkt unter «Ihr Kommentar zu diesem Artikel» eine Maske, mit der man de facto einen Online-Leserbrief an die Redaktion senden kann, der sonst nirgends erscheint. Bei Blick Online und 20min.ch können alle Artikel auf einer Skala bewertet werden. Diese läuft bei 20min.ch unter «Wie wichtig ist diese Story?» von eins bis vier beziehungsweise fünf nicht näher spezifizierten Sternchen bei Blick Online. Woher die Artikel unter dem Reiter «Oft kommentiert» kommen, beziehungsweise welche Artikel er kommentieren kann, ist für den Leser von Blick Online nicht ersichtlich.

So wurde getestet

Getestet wurden je drei Frauen und drei Männer im Alter von 21 bis 66 Jahren. Alle waren sehr interneterfahren (Nutzung seit mindestens vier Jahren) und lesen täglich online Nachrichten. Drei Testpersonen sind politisch aktiv und schreiben regelmässig Leserbriefe beziehungsweise Kommentare.

Kommentar-Policy nicht sichtbar

Die Möglichkeit, jeden Artikel zu kommentieren, gibt es derzeit nur bei NZZ Online. Alle Kommentare werden von der Redaktion gegengelesen und erst dann freigeschaltet, Pseudonyme sind nicht erlaubt. Die Testpersonen kannten diese Policy nicht und fanden sie auch nirgends auf der Website. Wir haben sie per EMail bei der NZZ-Online-Redaktion erfragt. Nach Aussagen der Redaktion gehen pro Tag 70 bis 100 Kommentare ein ? mit deutlichen Spitzen bei umstrittenen Themen, etwa den Krawallen von Bern.

Die NZZ-Website blendet die Kommentare nicht direkt unterhalb des Artikels ein. Sie müssen erst aufgeklappt werden. Unter Umständen möchte man damit erreichen, dass das Kommentar-Eingabefeld sofort sichtbar ist. Die Testpersonen fanden daher den Link auf die Kommentare erst nach einigem Suchen. Auch werden nach jeweils fünf Kommentaren die nächsten wieder komprimiert dargestellt und müssen über einen Link «Weitere Kommentare» wieder expandiert werden ? eine sehr verwirrende Funktion. Offenbar hat man Angst vor einer zu langen Seite.

Diskussionen schnell im Nirwana

Insgesamt fehlen auf der neuen NZZWebsite sämtliche Elemente, die die Leser zu Artikeln mit vielen Rückmeldungen lenken könnten. So versinken die Artikel mit vielen Kommentaren jeweils bald im Nirwana einer schnell drehenden Nachrichten- Site. Auf der Startseite finden sich in drei Reitern die «Neusten» und die «Meistgelesenen Artikel», aber die sonst an dieser Stelle übliche Kategorie «Meistkommentiert» fehlt. Auch bei den Suchergebnissen gibt es keine Anzeige der Anzahl an Kommentaren.

Zwei Tage nach den Krawallen von Bern schrieb die Onlineredaktion in einem Artikel über die Reaktionen: «Die Berner Ausschreitungen sorgen derweil für einen Rekord an Leser reaktionen bei ?NZZ Online?. Allein die Berichterstattung über die Krawalle zählte bis Dienstagmittag rund 300 Kommentare.» Aller dings hatte es die Redaktion versäumt, wenigstens einen Link zum meistkommentierten Artikel ? «Zwischen SVP-Himmel und schwarzer Hölle» aus der Print-Ausgabe von Montag zu setzen. Eine Testperson, die sich an der Diskussion beteiligen wollte, versuchte über einen längeren Zeitraum erfolglos, diesen Artikel zu finden.

Des Weiteren muss man sich als Kommentator über einen so genannten Captcha-Code als denkender Mensch identifizieren. Dabei wird eine Zahlen- und Buchstabenkombination verzerrt dargestellt, die vom Eingebenden wiedergegeben werden muss. Diese Funktion soll der Vermeidung von Comment-Spam dienen. Einer unserer Testpersonen gelang es schlicht nicht, diesen richtig einzugeben. Nach drei Fehlversuchen löschte sie am Ende versehentlich den noch nicht abgesendeten Kommentar und gab schliesslich auf.

Leser-Beteiligungsmöglichkeiten bei vier Schweizer News-Angeboten

20min.ch

Bewertungsmöglichkeit für Artikel auf einer Skala von 1 bis 4. Viele Umfragen (multiple Choice). Kommentare nur in ausgesuchten Fällen («Talk Back»).

nzz.ch

Seit dem Relaunch im Juli Kommentarmöglichkeit unter jedem Artikel. Keine Registrierung nötig, aber alle Kommentare werden moderiert.

blick.ch

Bewertungsmöglichkeit für Artikel auf einer Skala von 1 bis 5. Bei manchen Artikeln ist eine Kommentarfunktion vorhanden.

tagesanzeiger.ch

Forum zu ausgewählten Artikeln, Kommentarfunktion in den zahlreichen Blogs der Zeitung sowie im Ausgehmagazin Züritipp.

Eine Kommentarkultur entsteht nicht von heute auf morgen.

User Participation ist eines der Schlagworte des Web 2.0. Die Netzwoche befragte den Zeix-Partner und Blogger Peter Hogenkamp nach seinen Einschätzungen zur Kommentarkultur in der Schweiz und den Hürden, die auf technischer Ebene noch genommen werden müssen.

Interview: Christian Walter

Wie beurteilen Sie persönlich die Testergebnisse?

Ich weiss nicht, ob ich mich bestätigt fühlen oder entsetzt sein soll. Einige Leute scheinen entweder gar keine Meinung zu haben oder diese auf keinen Fall öffentlich äussern zu wollen ? nicht einmal bei einem polarisierenden Anlass wie den Krawallen von Bern.

Ist das nicht auch eine Kulturfrage?

Man hört sehr oft, es handle es sich um ein kulturelles Phänomen. Der Schweizer und die Schweizerin seien halt zurückhaltend und kommentierten deswegen nicht so viel. Das ist in Deutschland ähnlich. Damit stösst die simple Interpretation aber auch an ihre Grenzen. Ich denke, die Thematik ist komplexer. Allerdings würde es zu weit gehen, das in diesem Zusammenhang zu erörtern. Ausserdem befinden wir uns auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes. Ich könnte mir vorstellen, dass derzeit eine angespannte Stimmung herrscht und daher der Test in einem halben Jahr etwas anders ausfallen würde. Trotzdem sollte man sich davor hüten, nur die Anzahl der Kommentare zu bewerten. In US-Blogs finden sich oft Dutzende von Kommentare, die nur «Great!» oder «Thanks, very interesting » lauten. Solche Beiträge entsprechen wohl wirklich nicht unserer Kultur. Das ist aber auch nicht unbedingt schlimm.

Gibt es denn Beispiele für Web – sites mit sehr vielen Kommentaren im deutsch sprachigen Raum?

Ja, natürlich. In unserem Blog Neuerdings. com kommen auf bisher 4500 Beiträge rund 4000 Kommentare, also immerhin fast eins zu eins. Natürlich verteilen sich die Kommentare nicht gleichmässig. Der meistkommentierte Beitrag hat beispielsweise gegen 100 Kommentare. Der aktivste deutsche Blog «Basic Thinking» zählt seit 2005 sagenhafte 57 000 Kommentare bei 9000 Beiträgen. Natürlich ist dies die berühmtberüchtigte «Blogosphäre», die im weitesten Sinne eine Community darstellt. Aber hohe Beteiligung der Leser ist auch bei technikfernen Themen möglich. Der Tages-Anzeiger, sonst bisher nicht übermässig erfolgreich mit seinen Blogs, gab vor kurzem den 20 000sten Kommentar im Sekten-Blog von Hugo Stamm bekannt. Das gibt es erst seit 18 Monaten ? ich finde das sehr beeindruckend. Allerdings fliegen dort auch regelmässig die Fetzen. Das ist sicher nicht einfach zu moderieren. Auch gut zu sehen ist hier, wie der Erfolg eines Blogs mitunter an einer einzigen Person hängt.

Sollte man also bei solch heiklen Themen alle Kommentare vorher lesen und einzeln freischalten?

Man kann, aber wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, sollte man nicht. Der Witz am Onlinemedium ist doch gerade die spontane Diskussion. Wenn die Schreiber sich noch per E-Mail über neu eingegangene Kommentare benachrichtigen lassen, können sich schnelle, spannende Debatten entwickeln. Das Moderieren würgt diese von vornherein ab. Ich kenne eine Schweizer News-Website, die für das Freischalten von Kommentaren bis zu zwei Tagen braucht. Kein Wunder, dass dort niemand kommentiert. Anders argumentiert: Wenn man sowieso alle Kommentare zeitnah liest, wie die NZZ, kann man inakzeptable genauso gut nachher löschen oder beleidigende Passagen mit einem entsprechenden Hinweis entfernen. Die wenigen «Abweichler » verstehen diese Sprache sehr schnell. Das macht einem selbst etwas mehr Stress, weil man im Fall der Fälle schnell entscheiden muss, aber so bestraft man nicht die 95 Prozent der problem losen Kommentatoren mit unnötigen Wartezeiten.

Und was ist mit der Registrierung vor dem Kommentieren?

Double-Opt-in mit Validierung der E-Mail-Adresse ist doch sonst ein akzeptiertes Verfahren. Noch einmal, man kann natürlich alles machen: obligatorische Registrierung, Moderation aller Kommentare, Zwang zum echten Namen.