Die Zielvorgabe nach mehr Kundenorientierung hat ihren Weg in die Pfl ichtenhefte gefunden. War die Entwicklung von Applikationen bisher eher vom technisch Machbaren getrieben, setzen Unternehmen heute stärker auf User-Centered Design.
Zu den Mega-Trends in der ICT gehört der neu entdeckte Fokus auf die Kunden, seien dies Endkunden, Businesskunden oder interne Kunden. Nach einer langen Phase der technologiegetriebenen Entwicklung beginnt sich die Einsicht zu festigen, dass Software, Web(2.0)-Applikationen oder «SaaS» (Software-as-a-Service) nur dann akzeptiert und somit erfolgreich vermarktet werden können, wenn sie den Anwendern einen realen Mehrwert bieten. Insbesondere für interne Software wie zum Beispiel CRMs lassen sich massive Effi zienzgewinne erzielen.
Applikationen werden bisher vornehmlich von IT und Marketing konzipiert und entwickelt. Etwas salopp ausgedrückt, läuft dies nach folgendem Schema ab: Die Produktide wird in eine quantitative Marktforschungsstudie oder interne Umfrage verpackt, die das Produkt und seine Vorteile vage umschreibt. Die Freude bei den Projektverantwortlichen ist gross, wenn die Mehrheit der Befragten im Konjunktiv zustimmt, dass sie die vorgeschlagene Anwendung nützlich fänden und sich durchaus vorstellen könnten, sie zu nutzen.
Lustige «Workarounds»
Auf dieser Grundlage legen Produktmanager und IT in umfassenden prosaischen Dokumenten fest, was die Applikation können soll. Diese Vorgaben gleichen oft eher Visionen als konkreten strategischen Zielvorgaben; Kundenprozesse und reale Workfl ows werden darin zu wenig oder unter falschen Voraussetzungen beachtet und sind teilweise gar nicht defi niert. Dafür sind alle technisch machbaren Funktionen aufgenommen; Hauptsache Web 2.0 und multimediafähig – die neue Anwendung soll ja «auf dem neuesten technischen Stand» sein. Die IT programmiert nach allen Regeln der Kunst. Erst zum Schluss wird – böse gesagt – noch eine Benutzerschnittstelle «darüber gebraten».
Schliesslich stellt sich heraus, dass die Applikation bei den Kunden auf wenig Gegenliebe stösst trotz positiver Umfrageergebnisse. Der Grund: Die Applikation ist viel zu kompliziert und wurde am wirklichen Kundenbedarf vorbeientwickelt. Der reale Workfl ow der Kunden ist anders, die teuer programmierten Funktionen versteht und/ oder braucht niemand. Der Kunde hat keine realen Vorteile oder Effizienzgewinne. Die Anwender von Intranetapplikationen, deren Einsatz unvermeidlich ist, finden lustige «Workarounds» – jeder einen anderen, so dass die Varianz in der Anwendung hoch bleibt. Das alles konnten die potenziellen Anwender bei der raschen Beantwortung der Marktforschungsfrage gar nicht antizipieren.
Zuerst das GUI
Eine Alternative bietet die Umstellung auf die kundengetriebene Entwicklung. Das Stichwort «User-Centered Design» (UCD) bezeichnet eine Entwicklungsmethode, die von Anfang an die (potenziellen) Kunden einbezieht. Das Konzept wird von der Schnittstelle zum User ausgehend durchdacht, das heisst, das Graphical User Interface (GUI) wird zuerst entwickelt.
Nach der konkreten Festlegung der Strategie werden die User und ihre Aufgaben analysiert. Die User – interne Anwender oder externe Kunden – werden bei der Nutzung der bestehenden Anwendung und bei ihrem Arbeitsvorgehen beobachtet. Auf dieser Grundlage werden die ersten GUI-Entwürfe erstellt.
Die Kunden begutachten diese in Varianten. Der UCD-Spezialist erkennt so ihre Bedürfnisse, kann ihre Prozesse («Workfl ows») nachvollziehen und ihre Vorstellungswelten erfassen. Denn anhand solcher konkreten
Objekte können die Kunden bei weitem genauer und zuverlässiger angeben, was sie benötigen und verstehen.
Mit «Lowtech»-Prototypen ermitteln die UCD-Spezialisten in Usability-Tests das Nutzungserlebnis und verbessern in iterativen Prozessen die Applikation. Dabei geht es um die zentralen Fragen: Sind die Bedürfnisse abgedeckt und alle verschiedenen Rollen berücksichtigt? Verstehen die Kunden, was sie tun können? Können sie die geplante Applikation einfach bedienen, und trägt sie zu einer Effizienzsteigerung bei? Als Resultat dieses Vorgehens erhält die IT vollständige Abbildungen von Abläufen und Funktionalitäten im realen Design der Benutzerschnittstelle, die streng der Logik der künftigen Kunden folgen. Da sie wesentlich reicher an Details sind als herkömmliche «prosaische» Spezifikationen, dienen die so genannten «Storybooks» der IT als deutlich aussagekräftigere Grundlage für Machbarkeitsanalysen und Kostenschätzungen.
User erkennen Nutzen
User-Centered Design verkürzt Entwicklungszeiten. Denn die umfassende Qualitätssicherung findet statt, bevor auch nur eine Zeile programmiert wurde. Aufwändige Umprogrammierung und ein aufreibendes Change-Request-Management entfallen. Der Lebenszyklus der Applikation wird verlängert, da Fehler und Unschönheiten früh erkannt und nicht erst in diversen Release-Zyklen behoben werden müssen. Ebenso können teure und unnötige Funktionalitäten vermieden werden. Die Kosten für die Entwicklung fallen so deutlich geringer aus.
Neben den Effizienzgewinnen in der Entwicklungist natürlich der Kunde der Gewinner des neuen Verfahrens. Er oder sie profitiert von praxisnahen, benutzerfreundlichen und ballastfreien Applikationen: Die Anwender der Software erkennen an einem aussagekräftigen Interface leichter den Nutzen der Anwendung und sind schneller handlungsfähig. Sie kommen einfach zum Ziel, vermeiden Bedienfehler oder Workarounds und erzielen Effizienzgewinne bei ihrer eigenen Arbeit. Dies schafft Akzeptanz und erhöht letztlich die Arbeitsfreude. Schliesslich profitieren die IT-Verantwortlichen in Unternehmen von geringerem Schulungsaufwand, weniger User-Support und der einfacheren Kommunikation von Veränderungen.
Methode macht Schule
Je komplexer und umfangreicher die Inhalte und Funktionen einer Anwendung sind, umso wichtiger ist der Einbezug der Anwender zu Projektbeginn. Gänzlich unverzichtbar ist er, wenn die Folgen von Bedienfehlern gravierend sind. Am Wichtigsten dürfte der Einsatz
der Methode im Bereich E-Healthcare sein: Hier können Bedienfehler der Anwender sogar tödliche Folgen haben. Dies hat ein tragischer Fall in Frankreich im vergangenen Jahr gezeigt. Dort kamen drei Personen infolge falscher Röntgenbestrahlungen ums Leben, nachdem das Personal die unklaren Datenanzeigen auf dem Display falsch interpretiert hatte.
Die Methode «wandert» von Nordeuropa in den Süden. Hierzulande ist sie noch nicht so bekannt, erfahrene Anbieter und Ausbildungsplätze sind rar. Auch berücksichtigen die Zeitplanungen von IT-Projekten häufig
noch nicht, dass sich die Phasen in einem Entwicklungsprojekt verschieben. Während Konzeption und Storybooking vor Beginn der Programmierung länger dauern, verkürzen sich spätere Projektphasen. Wichtig für das Gelingen eines userzentrierten Projekts ist schliesslich, dass die Schnittstelle zwischen IT und userzentriertem Interface-Design auch während der Umsetzung geregelt ist und immer wieder Qualitätschecks aus Anwendersicht stattfinden.
Das Umdenken hat begonnen, hoffentlich ein Trend, der zum Standard wird.
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