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Netzguide – Business Communications: «Softwaredesign mit Papier, Bleistift und Beobachtung»

Usability ist eine wichtige Anforderung an Software. Diese Erkenntnis hat sich durchgesetzt. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt, die Benutzerfreundlichkeit sicherzustellen? Das grösste Potenzial besteht ganz am Anfang eines Projekts.

IT-Projekte haben den Ruf, immer länger zu dauern und mehr zu kosten als geplant. Meistens liegt dies daran – wie man hinterher weiss –, dass die Komplexität des Projekts unterschätzt worden ist und dass bei der Integration in die bestehenden Systeme ungeahnte Schwierigkeiten aufgetreten sind. Oder es fallen nach der Einführung sehr viele Änderungen an, weil wichtige Funktionen fehlen, die Benutzer die Applikation nicht richtig bedienen können oder ihre Verwendung absichtlich umgehen.

Falsche Anforderungsprofile

Doch wie kommt es dazu? Wenige Disziplinen haben so ausgefeilte Projektmanagementmethoden wie die IT. Am Anfang werden die Ziele der neuen Applikation definiert, in grossen Workshops Bedürfnisse erhoben und die technischen Rahmenbedingungen abgeklärt. Dabei werden meist prosaische Konzepte oder tabellarische Pflichtenhefte erstellt. Am Ende des Entwicklungsprozesses stehen Applikationen, die an den wirklichen Bedürfnissen vorbei entwickelt wurden. Die Mitarbeitenden, Kunden oder Lieferanten haben keine realen Vorteile oder Effizienzgewinne. Kurz: Die gesteckten Ziele wurden nicht erreicht, weil mit den gewählten Methoden, anstelle von realen Bedürfnissen, Wünsche erhoben wurden.

Benutzeroberfläche zuerst

Normalerweise wird zuerst spezifiziert, dann programmiert und zum Schluss eine Benutzeroberfläche darübergelegt. Die Methode des User-Centered Design dreht diesen Entwicklungsprozess um. Kommt sie zum Einsatz, werden von Anfang an die Benutzer, beziehungsweise die potenziellen Benutzer, in die Entwicklung einbezogen. Das Konzept wird von der Schnittstelle zum User ausgehend durchdacht, das heisst, dass zuerst die Benutzerschnittstelle (Grafical User Interface, die Voice-Schnittstelle etc.) entsteht. Von Anfang an werden die Anforderungen als Benutzeroberflächen visualisiert. Dadurch werden die Businessanforderungen an die Software zu einem frühen Zeitpunkt abgebildet und mit den künftigen Anwendern in Usability-Tests bezüglich Vollständigkeit, Zweckmässigkeit, Benutzerfreundlichkeit und Akzeptanz überprüft.

Konkrete Situationen beurteilen

Die frühe Darstellung von Abläufen und Seitentypen als Benutzeroberfläche ermöglicht nicht nur den Endnutzern in Usability-Tests, sondern auch anderen Stakeholdern, zum Konzept Stellung zu beziehen. Oft genügt schon eine Reihe von Zeichnungen mit Papier und Bleistift, um Grundsatzentscheide zu treffen und Fragen zur Machbarkeit zu klären. Durch den Schwerpunkt auf das Nachvollziehen der Arbeitsschritte durch den Benutzer ist sichergestellt, dass nicht nur das umgesetzt wird, was die IT für wünschenswert oder machbar hält, sondern das, was die Businessseite tatsächlich benötigt.

Low Tech zu Beginn spart Zeit und Geld im Prozess

Einer der ganz grossen Vorteile von User-Centered Design ist, dass die Stakeholder konkrete Lösungen zu einem Zeitpunkt beurteilen können, zu dem noch nichts programmiert wurde. Mit sehr einfachen technischen Mitteln können die ersten Skizzen in klickbaren Prototypen dargestellt werden, ohne echte Funktionalitäten zu beinhalten. Man kann verschiedene Varianten gegenüberstellen, da auch Vor- und Nachteile in den visualisierten Versionen viel besser vergleichbar sind. Wenn eine Variante – sei es eine von mehreren oder eine, die für nicht tauglich befunden wurde – verworfen wird, gehen dadurch keine teuren Programmierarbeiten verloren. Dass Unstimmigkeiten, Fehler oder ein Übermass an Funktionalitäten zu einem solch frühen Zeitpunkt identifiziert werden, verringert die Anzahl Release-Zyklen und verlängert insgesamt die Lebensdauer der Applikation.

Natürlich verlängert dieses Vorgehen die Zeit, die in Projektplänen für die Konzeption von Applikationen vorgesehen ist. Diese Zeit wird durch eine schlankere Implementierung jedoch bei weitem wieder eingeholt.

User-Centered Design für Businessapplikationen

User-Centered Design eignet sich für alle Arten von Applikationen, gerade für geschäftskritische. Von Anfang an werden Mitarbeitende beziehungsweise exemplarische Kunden/Lieferanten dabei beobachtet, welche Applikationen sie wozu benutzen, welche Funktionen sie benötigen und ob ihnen die Bedienung leicht von der Hand geht. Sie können dazu befragt werden, was sie an den aktuellen Applikationen mögen, was sie stört und was sie vermissen. Ebenfalls wird eruiert, ob es unterschiedliche Niveaus von Anwendern gibt: von solchen, die die Systeme und alle Tricks und Kniffe, Abkürzungen etc. in- und auswendig kennen bis zu denjenigen, die eine Anwendung einmal im Monat brauchen und jedes Mal wieder die benötigten Funktionen mühsam zusammensuchen müssen – teilweise sogar in Papierunterlagen, weil sie beispielsweise gewisse Codes nicht auswendig kennen.

Projektmanagement im User-Centered Design

User-Centered Design stellt keine bewährten Projektmanagementmethoden in Frage. Es wird genauso mit Phasen und Meilensteinen gearbeitet wie in anderen Projekten. User-Centered Design verfolgt konsequent den Ansatz, der in den meisten Theorien zwar empfohlen, in der Praxis aber oft nicht angewandt wird: Zuerst werden die Informationsarchitektur und die Prozesse konzipiert; das grafische Design und die technische Realisierung beginnen erst, wenn diese abgeschlossen und abgenommen sind. Auch der Einsatz von stark iterativen Methoden wie Agile oder Scrum ist zusammen mit User-Centered Design möglich, sofern auch hier der konzeptionelle Aspekt der Realisierung immer vorangeht.

Projektrisiken

Wer detaillierte Konzepte erarbeitet und von Anfang an Usability-Tests durchführt, braucht zu Projektbeginn mehr Zeit, als dafür in «konventionellen» Projektplänen vorgesehen ist. Meist steht das Projektteam aber ohnehin bereits unter grossem zeitlichen Druck, weil die Termine bis zur Einführung knapp bemessen sind, und weil für die technische Umsetzung der grösste Teil des zeitlichen und finanziellen Budgets reserviert ist. Zur etwas längeren Konzeptionszeit kommt unter Umständen die Suche nach geeigneten Dienstleistern mit Erfahrung in User-Centered Design. Denn von diesen gibt es in der Schweiz nur wenige. Die Anbieter verstehen unter Usability und User-Centered Design auch nicht alle dasselbe, so dass eine sorgfältige Evaluation notwendig ist, damit die Bedürfnisse der Auftraggeber erfüllt werden.

Die Übergabe des mit Usern validierten Konzepts an die Umsetzungspartner ist oft ein schwieriger Schritt. Die IT-Abteilung erhält zwar eine viel konkretere Dokumentation als sonst üblich ist. Doch ist es wichtig, dass das Projektteam, das die Konzeption getragen hat, auch die Umsetzung eng begleitet. Dadurch kann einerseits die Umsetzung der Usability-Erkenntnisse aus frühen Projektphasen ins Endprodukt sichergestellt werden. Andererseits werden Neuentwicklungen von bereits konzipierten Abläufen verhindert.

Die Projektrisiken zeigen, dass es Mut und Entscheidungsbefugnisse braucht, um die Bedürfnisse der Benutzer zu priorisieren, seien dies Kunden, Lieferanten oder eigene Mitarbeitende. Letztlich bringt jedoch User-Centered Design den entscheidenden Gewinn an Effizienz, Akzeptanz, Fehlerminimierung und Langlebigkeit.

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