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M-Commerce – kommt der Durchbruch noch?

Fachartikel in Jahrbuch Marketing & Kommunikation (M&K)

Wer im Berner Hauptbahnhof zu den Zügen läuft, kommt an einem roten Selecta-Automaten vorbei, an dem man Getränke, Schokoriegel etc. mit dem Swisscom-Mobile-Abo bezahlen kann. Durch Eintippen der Kombination *140*101354# wird die Zahlung ausgelöst, danach durch konventionelles Drücken aufs Knöpfchen die gewünschte Cola gewählt. Die Transaktion dauert nicht länger als 30 Sekunden. Praktisch.

Von: Peter Hogenkamp, Zeix AG

Ein paar Meter weiter ist ein kleiner Stand nur mit Getränken. Wer in Eile ist, hastet hin, greift sich die schon von weitem identifizierte Cola und drückt der Kassiererin die abgezählten Münzen in die Hand. Die Transaktion dauert nicht länger als 3 Sekunden. Noch praktischer.

Entsprechend meinen viele, so ist halt mCommerce: niedlich, solange es nicht schnell gehen muss oder wirklich wichtig ist, aber nicht wirklich nützlich ? so wie eCommerce in seiner Anfangszeit.

Mobile Commerce (oder, etwas breiter, mobile Business) ist die drahtlose Variante des Electronic Commerce, der Abwicklung von Geschäften über das Internet. Neuerdings wird es etwas schwieriger, die Grenze zu ziehen, denn wenn jemand mit seinem Laptop im Hotelzimmer oder im Flughafen sitzt und via WLAN das Internet nutzt, ist das zwar auch drahtlos, aber nicht grundlegend anders als im Büro. Wir wollen uns daher auf den Einsatz „echter“ mobile Eingabegeräte wie Handys und PDAs beschränken, die sich vor allem durch zwei Dinge vom Laptop unterscheiden: durch das kleine Display und die Tatsache, dass man sie in aller Regel immer dabei hat.

mCommerce gibt es seit rund fünf Jahren seit dem Launch von „WAP“ (Wireless Application Protocol). Angekündigt wurde WAP als das „mobile Internet“, und entsprechend waren die Erwartungen. Doch die WAP-Startseite von Swisscom Mobile sah damals aus wie Bluewin für Arme: Die gleichen Angebote: Nachrichten, Wetter, Sport, und die üblichen Verdächtigen wie Fleurop & Co. boten die üblichen Dienstleistungen an ? nur dass es via WAP ziemlich etwa zehnmal so lange dauert, einen Strauss Blumen zu bestellen wie im Web oder per Telefon, und sehen konnte man ihn auch nicht.

Als Haupthemmnis für den Durchbruch wurde die Geschwindigkeit genannt, doch in Wahrheit lag es auch stark an der schlechten Benutzungsfreundlichkeit (die nicht nur an der kleinen Handy-Tastatur lag) und an der mangelnden Phantasie der Anbieter.

Also hoffte man, GPRS, die paketbasierte und zudem schnellere Datenübertragung, werde den Durchbruch bringen ? doch GPRS hat bis heute mit mehreren Hürden zu kämpfen: die meisten Internet-User wissen gar nicht, was es eigentlich ist, die Preise sind zumindest ohne Zusatzabo absurd hoch (böse Zungen behaupten, die Anbieter wollen GPRS aus Angst um das zukünftige UMTS-Geschäft nicht zu erfolgreich werden lassen) und lassen den kostenbewussten User jedes Mal studieren, ob eine GPRS- oder eine normale Einwahl per Handy günstiger wäre.

SMS für alle Fälle

So bleibt das mobile Geschäften in der Masse bisher grösstenteils auf die Killer-Applikation beschränkt, die fast jeder Handy-Besitzer nutzt oder zumindest bedienen kann: SMS. Die kurzen Nachrichten werden für alles eingesetzt, was man sich vorstellen kann.

Voting und Abstimmungen

Die Mystery-Plakatkampagne mit dem Hasen Bugsy («Bestimme Bugsys Schicksal: SMS mit „metzgen“ oder „freilassen“ an 44544») von Swisscom Mobile Hasen gehört zu den bekanntesten in der Schweiz, nicht zuletzt wegen der Reaktionen empörter Tierschützer.

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In Deutschland hängte schon in 2001 das Berliner Start-up yoc einen Porsche an einen Kran und ließ per SMS abstimmen, ob das Auto am Boden zerschellen oder unter den abstimmenden Handy-Besitzern verlost werden sollte. Die meisten entschieden sich für „Crash“, der Porsche fiel, yoc hatte einen fulminanten PR-Erfolg zum Firmenstart.

– Quiz und Wettspiele

OPEL realisierte eine SMS-Kampagne, um Zugfahrenden die Zeit auf dem Weg zum Genfer Autosalon zu verkürzen. In den Zügen wurden Plakate aufgehängt und Rubbelkarten verteilt, die Registration löste ein mehrstufiges Quiz aus („Sauber-Rennwagen tragen vor der numerischen Bezeichnung ein C. Es steht für: A: Car, B: Course oder C: Christiane? Antwort A, B oder C an 20120.“)

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– Spontanbestellungen

Der Tagesanzeiger ersetzte die Postkartenspender im Tram durch eine Responsemöglichkeit per SMS: „Möchten Sie den Tagesanzeiger 4 Wochen lang kostenlos kennen lernen? Senden Sie Ihre Adresse per SMS an 079 718 18 18“. Die Aktion, vor zwei Jahren das erste Mal durchgeführt, war so erfolgreich, dass sie in diesem Jahr wiederholt wurde.

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– Zahlungsfunktionen

Beim Grundbuchamt Basel kostet die Auskunft, wer Inhaber einer Parzelle ist, CHF 3, zahlbar persönlich am Schalter oder bei Onlineabfrage per SMS; der User erhält aufs Handy einen Code, den er auf der Website eingeben kann. Um professionelle „Datenabsauger“ zu behindern, ist zudem die Anzahl Auskünfte auf drei pro Tag beschränkt ? diese Kontrolle wird ebenfalls realisiert durch die Identifikation per Handynummer.

– Interaktive Auskünfte

Seit Jahren der Klassiker und der vermutlich meistgenutzte SMS-Dienst in der Schweiz ist die Fahrplanauskunft der SBB: Durch einfaches Senden von „Winterthur Zürich“ an die Nummer 222 kommt Sekunden später die Antwort mit den drei nächsten Verbindungen: „1 Winterthur d20:28 a20:53 Zürich HB 2 Winterthur d20:41 a21:08 Zürich HB 3 Winterthur d20:52 a21:11 Zürich HB“

Hier zeigt sich zugleich die Wichtigkeit einer einfachen Syntax: „Startbahnhof Zielbahnhof“ kann sich jeder merken. Zum Vergleich: Ein Kino verlangt für eine Ticketreservation eine SMS an die Nummer 22002 im Format „xz(Leerschlag)Datum(Leerschlag)Uhrzeit(Leerschlag)Anzahl_Plätze“ ? unmöglich, sich daran auf der Badi-Liegewiese zu erinnern.

– Newsletter und Reminder

Darüber hinaus gibt es Hunderte von Info- und Reminder-Angeboten per SMS. Fast jede Zeitung hat einen (kostenpflichtigen) SMS-Dienst, die Stadtzürcher Entsorgung und Recycling schickt eine individualisierte Erinnerung an die Kehrichtabfuhr („Am Freitag, 23. April ist im PLZ-Gebiet 8004 Papiersammlung! www.sms.stzh.ch“), die SWISS ergänzt ihren erfolgreichen E-Mail-Newsletter mit den Angeboten zum Wochenende um eine SMS-Ausgabe („SWISS: Bereit für das Wochenende? Lugano CHF 98.- London 108.- Brüssel 148.- Paris Barcelona 149.- Thesaloniki 198.- New York 349.-. swiss.com/webspecials“).

Wie man sieht, sind die Zwecke unterschiedlich: von Imagewerbung über Adressgenerierung bis zum Direktverkauf. Doch ebenfalls fällt auf, dass es sich bei allen Beispielen um Ansätze handelt, die nicht nur per Handy möglich sind, sondern die SMS stellt lediglich entweder einen zusätzlichen Response- oder Eingangskanal dar. Im Vergleich zur E-Mail ist dabei die SMS deutlich „sichtbarer“, was der User je nach persönlich wahrgenommener der Wichtigkeit der Nachricht als Vorteil oder ein Nachteil empfinden kann.

Die innovativen Anwendungen der Zukunft

Doch wo bleiben die wirklich innovativen mCommerce-Anwendungen? Sie sind in Vorbereitung, nur muss man zweimal hinschauen, um die Masse von den kleinen Revolutionen zu unterscheiden.

Sinnvoll sind alle Tätigkeiten, die zeitkritisch sind und daher von unterwegs erledigt werden wollen, die überhaupt auf dem kleinen Display darstellbar sind, und die man sich einfach merken kann.

Musicfinder: Wie heisst dieses Lied?

Diverse Radiosender bieten schon lange die Funktion, sich den Titel des aktuell laufenden Songs im Internet anzeigen oder per SMS senden zu lassen. Ein Beispiel für die nächste Generation dieser Art von Service ist der englische Musicfinder, in der Schweiz von Sunrise angeboten. Wer ein Stück hört und nicht kennt, wählt 076 333 66 33, hält das Handy rund 20 Sekunden in Richtung der Musik, bis der Anruf abbricht, und erhält ein SMS mit den gewünschten Angaben ? und etwas Werbung: «Der Song heisst „American Pie“ von „Don McLean“. Die CD finden Sie bei citydisc – musicfinder ist ein Dienst von sunrise.» Eine Abfrage kostet 1 Franken plus Verbindungsgebühr. Laut Sunrise ist der Dienst «ein durchschlagender Erfolg».

elektronisches Zugticket

Mit Tickets per SMS experimentieren diverse Betriebe des öffentlichen Verkehrs, aber das Problem ist häufig die Feststellung der Authentizität. Wenn der Schaffner eine 15stellige Nummer eintippen muss, um die Echtheit des Tickets zu überprüfen, wird der Produktivitätsgewinn aus dem Verkauf im Zug mehr als aufgezehrt. Hier kommt die echte Innovation aus Holland: Die Firma LogicaCMG hat einen optischen Code entwickelt, an den der Schaffner einen Scanner halten kann.

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Parkhausinformation

Ein weiteres schon umgesetztes Beispiel sind Parkgebühren: Wer per SMS zahlt, muss nicht zum Automaten, was wiederum nicht gerade weltbewegend ist. Den wirklichen Durchbruch bereitet ebenfalls LogicaCMG vor: Wer demnächst zu einer Messe in Amsterdam anreist, smst den Namen des gewünschten Parkhauses ? und erhält die Nummer eines bereits reservierten Parkplatzes zurück; die Parkgebühren werden gleichsam nebenbei eingezogen. Hier ist der Zusatznutzen sowohl für den Einzelnen wie auch für die gesamte Stadt unmittelbar ersichtlich.

Was macht also eine mCommerce-Anwendung erfolgreich?

Nutzen. Die mobile Interaktion muss einen Zusatznutzen bieten. Das Kinoprogramm kann man auch in der Zeitung nachschlagen, ein Ticket auch telefonisch reservieren ? der Nutzen entsteht, wenn man nicht eine halbe Stunde vorher dort sein muss, um es abzuholen.

Einfache Bedienung. Dass es mühsamer ist, Eingaben auf einem mobilen Gerät vorzunehmen als am PC, sieht jeder ein ? SMS ist eine eigentlich schlecht bedienbare Anwendung, die sich trotzdem durchgesetzt hat. Trotzdem gibt es eine klare Schmerzgrenze, die nicht unterschritten werden darf.

Dringlichkeit. Bei wenig dringlichen Anwendungen wird der User warten, bis er wieder zu Hause ist ? diese mobil pushen zu wollen, wird keinen Erfolg haben.

User Education. Unterwegs haben die User nur das nackte Handy bei sich ? alle gut gemeinten Anleitungen, auch im Kleinformat, sind im Zweifelsfall nicht zur Hand, wenn es darauf ankommt. Was zu tun ist muss also dem User so gut erklärt werden, dass er sich die notwendigen Schritte für die nächste Nutzung merken kann.

Ortsbezug. Wirklich funktionierende „Location-based Services“ dürften einen grossen Schub bewirken, fehlen jedoch bisher. Dass ich in Bern-Bümpliz bin, könnte eigentlich auch schon mein Handy wissen ? schon ist die Fahrplanabfrage noch einen Schritt einfacher.

Langeweile. Der Wunsch, Zeit totzuschlagen, ist eine gute Motivation, Dinge auszuprobieren. Allerdings tritt er nie in Verbindung mit den anderen Nutzungsgründen auf, also muss man sich vor Mischformen hüten. Eine mobile Applikation muss entweder nur fokussiert sein oder nur spielerisch sein.

Fazit:
Das Warten der Anbieter auf die bessere Hardware und die schnellere Anbindung, derzeit unter dem Zauberwort „UMTS“, ist teilweise eine Ausrede, wenn sie nur hoffen, in Zukunft das Internet auf dem Handy ablaufen lassen zu können. Dieses Angebot wird sowieso kommen, und inwieweit akzeptiert wird, lässt sich heute noch nicht sagen. Die „echten“ mCommerce-Anwendungen, die dem User in seiner spezifischen Mobilitätssituation helfen, sind jedoch auch mit den heutigen Möglichkeiten schon realisierbar ? doch entscheidet der Nutzen über die Nutzung.

aus: Jahrbuch Marketing & Kommunikation (M&K) 2004/2005

Artikel als PDF:

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