Kontext ist die Königsdisziplin im User Experience Design. Erst wenn Sie den Kontext richtig auffangen, in dem User Ihr digitales Angebot nutzen, klappt es auch mit der «Joy of Use».
Wenn eine User Experience nicht gut ist, heisst das, dass Ihr Produkt (oder Service, Website etc.) den Bedürfnissen der User:innen nicht Rechnung trägt. In den allermeisten Fällen heisst das, dass Sie den Kontext, in dem die User:innen das Produkt benutzen, unterschätzt haben. Mit qualitativer Beobachtung, d.h. Userforschung, erkennen Sie die Anwendungsfälle, Erwartungen, Painpoints und Emotionen Ihrer Kund:innen.
Situation & Kontext
Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Für die Zusatzversicherung einer Krankenkasse muss ein Kunde einen Antrag mit vielen Fragen zur Gesundheit seiner Familie ausfüllen, unter anderem die Grösse und das Gewicht aller Familienmitglieder. Im Usability-Test im Zeix-Lab kannte die Testperson die Antworten nicht und kam im Prozess nicht weiter. Genauso hätte es sich verhalten, wenn er das Formular über Mittag im Büro hätte ausfüllen wollen. Der Kontext, dass eine Person das Formular für die ganze Familie alleine ausfüllt, wurde nicht berücksichtigt. Dank Beobachtung in einem realistischen Umfeld konnten die Auftraggeberinnen erkennen, dass die Funktion einer Zwischenspeicherung des Formulars wichtig ist.
Empathie & Kontext
Wissen Sie, wer Ihre User:innen sind und was sie tun?
- Wann, wo und unter Umständen tun sie es?
- Sind sie im Tram, zuhause oder am Arbeitsplatz?
- Machen sie es gerne oder sind sie gestresst?
- Wie gut sprechen sie Ihre Sprache?
- Welche Lebenserfahrung haben sie, die ihnen das Verständnis erleichtert oder eben nicht?
- Brauchen sie Unterstützung, weil ihre Sinne eingeschränkt sind (z.B. bereits die Sehfähigkeit bei den meisten über 40-jährigen)?
- Mit welchen anderen Produkten vergleichen sie Ihr Produkt?
- Und last, but not least: Welche Erwartungen haben sie?
Sie können sich all diese Fragen hypothetisch stellen ‒ noch besser aber ist es, die Userinnen und User zu beobachten und zu befragen.
Benutzerführung & Kontext
Das Denken in Anwendungsfällen hilft, damit User:innen besser zum Ziel gelangen. Das bedingt, dass man die Anwendungsfälle als Prozess versteht. User:innen interagieren so gut wie nie nur mit einem Screen, sondern immer mit einer Abfolge von Interfaces, sei es in einem schrittweise aufgebauten Prozess oder beim Suchen oder Navigieren. Beim Durchlaufen der verschiedenen Schritte oder Interfaces bauen die User:innen ein mentales Modell auf: den Kontext ihres Anwendungsfalls. Dabei muss man berücksichtigen, dass auch andere Faktoren in die User Experience hineinspielen:
- Wieviel Vorwissen hat die Person?
- Steht sie unter Zeitdruck?
- Gibt es ähnliche Produkte, auf die sie ausweichen kann, wenn sie unzufrieden ist?
Während der Konzeption gilt es, sich immer wieder solche Fragen zu stellen und immer wieder andere Perspektiven einzunehmen, um dem Nutzungskontext gerecht zu werden.
Visual Design & Kontext
Visual Design ist stark abhängig vom Medium, das man nutzt ‒ also dem Kontext des Designs. Viele Unternehmen haben Visual Styleguides, die nur für Print gemacht wurden. Für eine benutzerfreundliche Applikation ergänzen wir dann Interaktionsfarben für verschiedene Status. Dies wiederum funktioniert unterschiedlich, je nachdem ob ein Screen mit den Fingern oder eine Maus bedient wird.
Informationsarchitektur & Kontext
E-Mail ist eine der meist genutzten Applikationen, aber wenige davon berücksichtigen den Kontext, in dem wir sie nutzen. Denn bei der Arbeit sind E-Mails vor allem Aufgaben, die abgearbeitet werden müssen. Weshalb sie deshalb als Liste darstellen und nicht als Kanban-Board?
Anstelle als Liste könnte man professionelle E-Mails in einem Kanban-Board darstellen. Das würde dem Kontext des Erledigens von Aufgaben besser Rechnung tragen.
Frontend Code & Kontext
Auch in der Frontend-Programmierung ist Kontext zentral. Denn der Code soll an möglichst vielen Orten wiederverwendet werden. Doch der Kontext wirkt sich auf den Code aus. Die gleiche Link-Liste muss mit Darstellungsoptionen versehen werden, so dass sie sowohl kompakt neben dem Fliesstext …
… oder auch als eigenständiges Element unter dem Text eingesetzt werden kann.
Kontext für Produktmanager
Versetzen Sie sich mindestens 1x im Jahr in Ihre User:innen und stellen Sie sich Fragen wie die oben unter User-Forschung zum Entdecken des Kontexts genannten:
- Nach welchen Begriffen könnten Ihre User:innen Ihr Produkt suchen? Googeln Sie damit einen möglichen Einstieg und beobachten Sie, in welchem Umfeld Ihre Site vorkommt. Nutzen Sie mal ein Handy, mal einen grossen Bildschirm, mal einen Laptop und lassen das Ganze auch durch ein Barrierefreiheits-Tool (z.B. TotalValidator) laufen.
- Wenn Ihre User:innen nur zwei Minuten Zeit haben, finden sie die gesuchte Information?
- Wenn Sie sich in die Rolle des Users oder der Userin versetzen, wie wohl fühlen Sie sich?
Notieren Sie sich, wo es eine Kluft gibt zwischen dem Kontext der User:innen und Ihrem Produkt. Damit haben Sie schon mal eine gute Ausgangslage, um Probleme zu priorisieren und Massnahmen abzuleiten.
Warum wir über Kontext schreiben
Seit über 20 Jahren beschäftigen wir uns tagtäglich mit Kontext. Und es brauchte keine Diskussionen bei den Kolleg:innen der World Information Architecture Association, als wir das Thema Context als Motto für den World Information Architecture Day 2024 eingebracht haben. Denn es bringt unsere Beschäftigung mit den Bedürfnissen von Userinnen und Usern auf den Punkt. Dieses Jahr unterstützen und organisieren wir den Event in Zürich bereits zum 10. Mal und freuen uns, dass genau dieses zentrale UX Prinzip der Star der Jubiläumsausgabe wird.
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